Vom Brotdosencheck bis zur Stressprävention

MDK forum Heft 3/2017

Seit Anfang des Jahres gibt es an Schulen in Brandenburg und Hessen Schulgesundheitsfachkräfte, die im Rahmen eines Modellprojekts positiv auf den Zusammenhang von gesundem Aufwachsen und Bildungserfolg einwirken sollen.

NICHT NUR ELTERN, Lehrerinnen und Lehrern leuchtet es intuitiv ein: Gesunde Kinder lernen besser. Doch die Chan­cen auf eine gesunde Kindheit und damit auf ein gesundes Lernen sind ungleich verteilt. Jedes sechste Kind in Brandenburg lebt in einer Familie, die Grund-Gesunde Kinder sicherungsleistungen erhält. Diese Kinder und Jugendlichen leiden deutlich häufiger an Übergewicht, Diabetes, Ver­haltensauffälligkeiten und psychosomatischen Erkrankun­gen. Gesundheitliche Beeinträchtigungen können sich wie­derum auf die schulischen Leistungen niederschlagen und die Aussicht auf Bildungserfolge verringern.

An dieser Stelle setzt das Modellprojekt Schulgesund­heitsfachkräfte (sGFic) an, das von der AWO Potsdam und dem Bündnis Gesund Aufwachsen in Brandenburg auf den Weg gebracht wurde. Nach intensiver Vorbereitung sind seit Februar dieses Jahres zehn Schulgesundheitsfachkräfte an zwanzig Brandenburger Schulen im Einsatz. In Hessen sind es seit Juni zehn Fachkräfte an zehn Schulen. Das Projekt wird für beide Bundesländer gemeinsam durch das Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charite Berlin ausgewertet.

Von der Schulkrankenschwester zur Schulgesundheitsfachkraft

Sybille Rudnik ist nun schon seit über einem halben Jahr Ansprechpartnerin für insgesamt 727 Schüler und Schülerin­nen an zwei Grundschulen in Cottbus: »Die Lehrerinnen und Lehrer begegneten mir zunächst mit großer Neugierde und auch etwas Skepsis, ob eine Schulgesundheitsfachkraft tat­sächlich zu einer Entlastung der Lehrerschaft beitragen kann. Das hat sich in Wohlwollen gewandelt. Die Kinder waren sofort begeistert.« Und auch Sybille Rudnik merkt man die Begeisterung'an. Täglich kommen fünf bis fünfzehn Kinder mit großen und kleinen Problemen zu ihr: von der Papierschnittwunde bis zur Scheidung der Eltern.

Rudnik ist ausgebildete Krankenschwester mit einer Zu­satzausbildung zur »Fachschwester für Anästhesie und In­tensivmedizin«. Als sie von der Machbarkeitsstudie der Awo erfuhr, bewarb sie sich zur Teilnahme am Modellprojekt. Die Machbarkeitsstudie bildete schon ab 2012 die erste Projekt­phase und profitierte vom Austausch mit Finnland, Polen und Dänemark, wo es bereits seit mehreren Jahrzehnten vergleichbare Modelle gibt. So konnten unter anderem ein Tätigkeitsprofil und Empfehlungen für strukturschwache Regionen erarbeitet werden.

Gesundheitsförderung - irviernational und interdisziplinär

Bis 2016 wurde ein umfassendes Curriculum mit sechs Aufgabenbereichen entwickelt, das das Fundament der Wei­terbildung von erfahrenen Pflegefachkräften zu Schulge­sundheitsfachkräften bildete: Dabei werden die Teilnehmen­den drei Monate in Vollzeit und acht Monate tätigkeitsbe­gleitend auf ihre Arbeit an den Schulen vorbereitet. Neben der Akutversorgung gehören Gesundheitsförderung und Prävention, Früherkennung sowie die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen zum Aufgabenspektrum. Mit diesen fünf Bereichen verwoben ist als sechster die außerschulische interdisziplinäre Kooperation. So berät sich Sybille Rudnik zum Beispiel mit Sozialarbeitern, Sonder- und Heilpäda­gogen und steht im engen Kontakt mit dem Kinder- und Jugendgesundheitsdienst Cottbus (KJGD), den sie wiederum beim Gesundheitscheck der sechsten Klassen unterstützt.

Das Curriculum, fachliches Herzstück des Projekts, ist das Ergebnis der intensiven Zusammenarbeit von Expertin­nen und Experten des Schul- und Gesundheitswesens, der Kinder- und Jugendmedizin sowie der AWO und dem Projekt BEST WSG (Berufsintegrierte Studiengänge zur Weiterqua­lifizierung im Sozial- und Gesundheitswesen). Auch die 2014 von der WHO formulierten Kernkompetenzen für Schulge­sundheitsfachkräfte flossen in das Curriculum ein.

 

Genug Zeit für kleine und größere Sorgen?

Wenn Kinder akut versorgt werden müssen, darf das, obligatorische Pflaster genauso wenig fehlen wie ein paar aufmunternde Worte und Aufmerksamkeit. Rudnik hat inzwischen Präventionsangebote wie den »Brotdosencheck« und richtiges Händel,vaschen umgesetzt. Und auch ein paar kleine Diabetesexperten hat sie mittlerweile in Cottbus »ausgebildet«. Das gemeinsam mit den Klassenlehrerinnen altersgerecht vermittelte Wissen enträtselt zum einen die chronische Erkrankung, zurii anderen wird dabei deutlich, wie Körper, Ernährung und Gesundheit zusammenhängen. In Einzelarbeit stellten Rudnik und eine syrische Schülerin, die an Diabetes Typ erkrankt ist, beispielhaft eine Beispielbrotdose zusammen und berechneten dazu Brot- und Insulineinheiten mit Hilfe von Bildern.

»Gut, dass du da bist!« hört Sybille Rudnik oft von den Kindern, aber auch: »Wo warst du gestern? Wir hätten dich gebraucht!« Die Gesundheitsfachkraft füllt offensichtlich viele Lücken. Nicht nur die Kinder besuchen sie oft in ihrem kleinen Zimmer im Erdgeschoss. Auch Lehrkräfte und Eltern fragen um Rat und sind dankbar, die Kinder gut betreut zu wissen. Dennoch kann der Bedarf an den teilnehmenden Schulen kaum als gedeckt gelten. Die AWO empfiehlt ein Betreuungsverhältnis von maximal 700 Schülerinnen und Schülern, optimal wäre sogar nur die Hälfte pro vollbeschäftigte Fachkraft. Auch Rudnik bestätigt, dass es schwierig sei, an zwei oder drei Schulen gleichzeitig zu arbeiten: »Über diesen Punkt muss aus meiner Sicht unbedingt nachgedacht werden. An einer großen Schule wie der Europa-Schule mit drei Häusern ist es schwierig, für alle da zu sein.«

Zukunft und Chancen

Rudniks umfassende Weiterbildung beinhaltete nicht nur Unterrichtseinheiten zur gesundheitlichen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, sondern auch Grundsätze der Gesprächsführung und Stressbewältigung. »Dieses Um­feld erfordert berufliche Erfahrung sowie eine besondere Empathie für die Bedürfnisse der Kinder, Eltern und auch Lehrer.« Dennoch spielt die Abgrenzung der Tätigkeitsfelder zur sozialpädagogischen, psychologischen und ärztlichen Arbeit eine besondere Rolle in dem für Deutschland jungen Berufsfeld. Damit wird die Schulgesundheitsfachkraft zu einer wichtigen Schnittstelle, die vieles im Blick hat, konkret entlasten und vorsorgen kann, aber auch einordnen muss, wann spezielle Unterstützung notwendig wird. Einmal die Woche täuschen sich die Brandenburger Kolleginnen auch untereinander aus.

1,1 Millionen Euro stellen das Brandenburger Ministeri­um für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, das Bildungsministerium, die AOK Nordost und die Unfallkasse Brandenburg für Gleiche Chancen das Modellprojekt bis Oktober 2018 zur für alle Kinder Verfügung. Die Zukunft des Projekts, vor allem hinsichtlich der Finanzierung der Gesundheits­fachkräfte, wird erst mit der Evaluation 2018 geklärt werden. Vielleicht zeichnet sich bis dahin bereits ein längerfristiger - Effekt ab, der dem Gießkannenprinzip manch anderer Pro­gramme einiges voraus hätte.

Die Lehrerinnen und Lehrer fragen Sybille Rudnik immer öfter um Rat und für die Kinder ist sie schon jetzt feste Ansprechperson. Sie haben Vertrauen zu ihr entwickelt und wissen die kontinuierliche Fürsorge zu schätzen. Prävention und Früherkennung werden damit ins Schulsystem imple­mentiert und können nachhaltiger wirken. Auf akute Proble­me kann schnell professionell reagiert werden. Die Schul­gesundheitsfachkraft prägt auf diese Weise die Schule als Ort gesundheitlicher Chancengleichheit, denn die Schwelle des Angebots liegt für alle Schülerinnen urid Schüler gleicher­maßen niedrig.

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